Blumenthal, Sandro


Von der Akademie zur Avantgarde


»Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.«
 Walter Benjamin Schwerer mag es sein, häufig ist es aber auch reizvoller, gleicht doch der Weg durch die noch dunklen Regionen der Menschheitsgeschichte einer wahren Schatzsuche, die immer wieder ungeahnte Preziosen zutage fördert. Zur Euphorie des Finders über seine Entdeckung gesellt sich sein Verdienst, einen mal größeren, mal kleineren Teil der Vergangenheit erschlossen und damit vor dem Vergessenwerden bewahrt zu haben. Über München um 1900, eines der wichtigsten deutschen Kunst- und Kulturzentren jener Zeit, ist viel geschrieben worden, meist allerdings nur über die namhaftesten Protagonisten dieser goldenen Ära der Stadt wie Thomas Mann und Richard Strauss. Kaum Beachtung fanden hingegen viele der weniger berühmten und erfolgreichen Künstler, die die Szene jedoch ebenso entscheidend beeinflussten. Zu ihnen zählt der Komponist und Sänger Sandro Blumenthal (1874–1919), ein vielseitiger Wandler zwischen den etablierten und den avantgardistischen Welten der Musik- und Kulturlandschaft jener Jahre. Bekanntheit erlangte er vor allem durch sein Wirken als Kabarettsänger, doch weist ihn sein Frühwerk, dem diese erste Einspielung seiner Werke gewidmet ist, als ebenso begabten Komponisten „ernster Musik“ aus.
Sandro Blumental wurde am 30. Juni 1874 als Sohn von Minna und Carlo Blumenthal, einem jüdischen Bankier, in Venedig geboren. Hier besuchte er das Konservatorium Benedetto Marcello und studierte Klavier, Violine und Viola sowie Komposition. Neben Klavierstücken entstanden in dieser Zeit vornehmlich Klavierlieder, von denen mehrere bei verschiedenen italienischen Verlegern im Druck erschienen, darunter Non pensare a me!, M’incontri per la strada und Ah non languir! Das Gedicht Non pensare a me!, der Abschiedsgesang eines Sterbenden, stammt von dem venezianischen Musikwissenschaftler und Komponisten Taddeo Wiel, den Blumenthal vermutlich aus dem Konservatorium kannte. Der süßlich-schmerzliche Duktus, in dem das Lied beginnt, steigert sich am Schluss bis hin zu verzweiflungsvoller Dramatik. In dem von Blumenthal wohl selbst verfassten Gedicht M’incontri per la strada ermahnt die Sprecherin ihren nachlässigen Geliebten in mal zärtlicheren, mal strengeren Tönen, die von glockenhaft-kreisenden Figuren und gitarrenartigen Arpeggien des Klaviers begleitet werden. Ähnlich schwankt auch das enigmatisch-melancholische Ah non languir! aus der Feder von Emilio Praga zwischen verhaltenen und aufbrausenden Abschnitten. In allen drei Liedern ist der Einfluss Giacomo Puccinis deutlich zu erkennen.
Ab 1896 setzte Blumenthal seine Ausbildung für drei weitere Jahre an der Münchner Königlichen Akademie der Tonkunst fort, wo er die Kompositionsklasse von Josef Rheinberger besuchte, Lehrer berühmter Musiker, Tonsetzer und Dirigenten wie Engelbert Humperdinck oder Wilhelm Furtwängler

Unter Rheinbergers Anleitung wagte sich Blumenthal nun auch an größer besetzte Formen und schrieb Kammermusikstücke sowie Werke für großes Orchester. Mit Erfolg: Nicht nur wurden seine Kompositionen bei den öffentlichen Semesterabschlusskonzerten der Akademie vorgetragen und von der Leitung des Konservatoriums belobigt, auch die hier anwesende Presse attestierte dem jungen Tonsetzer eine große Begabung, „Sicherheit in der Kompositionstechnik“,„viel Sinn für Klangschönheit“ sowie „Natürlichkeit und Frische der Empfindung“. Neben einem Klavierquartett in a-Moll, einer Symphonie sowie einer Elegie für Orchester zählen auch die beiden Klavierquintette in D-Dur und G-Dur op. 2 und op. 4 zu den Schöpfungen jener Jahre. Der erste Satz Allegro moderato des Quintetts in D-Dur eröffnet mit einer arabesken Klavierfigur, über der sich ein träumerisch-sehnsüchtiges Thema in ausladenden Wiederholungen strahlend entfaltet. Eher knapp ist im Gegensatz dazu das zweite Thema gehalten, ein punktiertes Motiv, das zunächst zurückhaltend im Klavier ertönt, dann jedoch ins Maestoso gesteigert wird und wenig später die Durchführung bestimmt. Als drittes Thema erklingt eine liedhafte, vom Cello vorgestellte Wendung, die erstmals in der Coda der Exposition zu hören ist und den Satz ruhig zu Ende führt. Zart und verhalten, fast Schubertisch beginnt das dreiteilige Adagio espressivo , für das Blumenthal zwei sehr seltene Tonarten, das helle Fis-Dur und das weiche Des-Dur, wählt, und dessen lyrischer Ton sich immer wieder bis ins Schmachtende steigert. Der originellste Satz des Quintetts ist wohl das Scherzo , dessen kecke Stimmung an Mendelssohn erinnert. Einen deutlichen Kontrast zu dem übermütigen Prestissimo mit hinkenden Rhythmen und brausender Chromatik bildet das ungewöhnlich ernste Trio mit seinen Fugati und seiner fast schmerzlichen Stimmung. Mit einer rätselhaft-düsteren Molto lento -Einleitung im Unisono eröffnet das Finale. Energisch drängt das erste Thema des anschließenden Allegro con fuoco nach vorn und wird vom zweiten liedhaften Thema, zuerst vom Klavier allein vorgetragen, abgelöst. Ungebremst dynamisch ist der Gestus dieses ausladenden letzten Satzes, der das Quintett furios abschließt.
Ein Jahr nach dem 1898 entstandenen und beim Semesterabschlusskonzert uraufgeführten Quintett in D wurde im Juni 1899 das Klavierquintett in G-Dur aus der Taufe gehoben. Die Fortschritte, die der junge Tonsetzer in der Zwischenzeit gemacht hatte, sind deutlich zu hören, wenngleich ein wirklicher Personalstil, der über die musikalischen Konventionen jener Zeit hinausginge, auch hier nicht eigentlich erkennbar ist. Mehr als zuvor setzt Blumenthal nun auf die Eigenständigkeit der Stimmen und bemüht sich stärker um künstlerische Ausarbeitung anstelle von wirkungsvollen, aber gelegentlich auch platten Effekten. Hiervon zeugt bereits die langsame Einleitung Adagio sostenuto
 des ersten Satzes mit ihrer eigenwilligen Harmonik. Doch auch der Umgang mit den beiden Themen des anschließenden Allegretto deciso e con mot o lässt einen verfeinerten Stil erkennen: Gerade das erste, aus der Introduktion abgeleitete Thema, ein Sextsprung nach oben, der dann in sanften Wellen abwärts geführt wird und zuerst im Klavier erklingt, wird in der auffällig langen Überleitung zum zweiten Thema, einem Dialog von Bratsche (nachschlagende Seufzer) und zweiter Geige (Aufwärtsbewegung), vielseitig weiterverarbeitet.

Nicht ganz frei von salonmusikhaftem Schmalz und Pathos ist der zweite Satz Andante cantabile assai sostenuto mit seinen beiden gesanglichen Themen, von denen besonders das zweite beständig wiederholt wird und durch die bis in höchste Höhen ansteigende erste Geige an Dramatik gewinnt. Erfindungsreicher zeigt sich Blumenthal abermals im ruppig-grimmigen Scherzo mit witzigen und irritierenden rhythmischen Raffinessen wie dem Wechsel zwischen 3/8- und 2/4-Takt. Für das zurückgenommene, erkennbar an klassische Modelle angelehnte Trio wählt er mit Ges-Dur abermals eine recht seltene Tonart, die den warmen Charakter des Stückes unterstreicht. Einer fast improvisierten Fantasie gleich beginnt der Finalsatz mit seiner langsamen Einleitung Allegretto quasi a piacere. Wie schon im ersten Satz liefert auch hier die Figur der Introduktion das Material für das erste, tänzerische g-Moll-Thema, in das Klavier und tiefe Streicher nacheinander einfallen, und wie zuvor entwirft Blumenthal eine ausufernde Überleitung zum zweiten, wieder kantable Thema in D-Dur, das zunächst im Cello erklingt. Ein hübscher Einfall markiert das Ende der Durchführung: Sozusagen im Rückwärtsgang werden die Anfänge der vorherigen Sätze noch einmal angespielt. Das nur noch schemenhaft erkennbare Hauptthema des ersten Satzes nimmt schließlich wieder an Fahrt auf und führt zurück in den Finalsatz, der zuletzt nach G-Dur moduliert und somit den Bogen zum Beginn der Komposition schlägt.
Die Uraufführung dieses Quintetts markiert das Ende von Blumenthals Studienzeit, in dessen Folge er sich nun vermehrt für eine ganz andere und in Deutschland noch völlig neuartige, ja avantgardistische Kunstrichtung zu interessieren begann: das Kabarett. Im Herbst 1901 stieß er zum Ensemble der Elf Scharfrichter, Münchens erster Brettlbühne, die ein halbes Jahr zuvor eröffnet worden war und die sich eine radikale Erneuerung der Künste zum Ziel gesetzt hatte. Schnell wurde Blumenthal, nun unter seinem Künstlernamen Leonhard Bulmans, zum vielbeschäftigten „Henkersknecht“, der als Komponist, Kapellmeister, Sänger und Violinist in Erscheinung trat. Dreißig Titel steuerte er zum Repertoire des Brettls bei, darunter verschiedene Barocktänze, die häufig als Eröffnungsnummern gegeben wurden. Sehr erfolgreich waren auch seine Nummern für Gesangsensemble, für die er von der Presse immer wieder als „Stimmungskünstler ersten Ranges“ gefeiert wurde. Weiterhin trug Blumenthal mit deutschen, französischen und italienischen Solo-Liedern wie „Der Tod singt“ oder „Chanson d’une morte“ zu der spezifischen düster-dekadenten Stimmung der Scharfrichter bei. Sozialkritische Töne wagt er u. a. in seiner hitzigen Vertonung des Erntelieds von Richard Dehmel, das mit seinen Tonrepetitionen und der aufgewühlten Klavierbegleitung den Volksaufstand gleichsam herbeischreit. Wie Heinrich Mann, ein häufiger Gast der Scharfrichter, berichtet, trug Blumenthal selbst das Lied „sehr kühn und feierlich“ vor. Im November 1902 übernahm Blumenthal dann außerdem auch die Leitung des Scharfrichter-Orchesters, das er „mit Energie, Umsicht und zuverlässigem künstlerischem Geschmack“ führte, wie es in einer Zeitungsrezension heißt. Personelle, vor allem aber auch finanzielle Schwierigkeiten hatten den Scharfrichtern von Anfang an zu schaffen gemacht und immer wieder geriet das Kabarett in die roten Zahlen, so auch zu Beginn des Jahres 1904. Diesmal war es Blumenthal, der sich als vermögender Bankierssohn für die Rettung
der Bühne einsetzte, indem er das hochverschuldete Theater – zu einem unbekannten Preis – kaufte. Doch sein beherztes Einschreiten konnte das Ende der Scharfrichter nur um wenige Monate hinauszögern. Trotz dieser unerfreulichen Entwicklung hatte das Genre Kabarett für Blumenthal seinen Reiz nicht verloren und so setzte er in den nächsten Jahren seine Tätigkeit als Brettlkomponist und -sänger an verschiedenen Bühnen fort. 1905 wurde er als „Meister der modernen, düster romantischen Komposition“, wie es in einer zeitgenössischen Kabarettzeitschrift heißt, an das Münchener Künstler-Cabaret verpflichtet, es folgten weitere Engagements am Kleinen Theater und im Kabarett Grauer Esel in Zürich, im Kabarett Fledermaus in Wien sowie im Linden-Cabaret in Berlin. Als „überaus schlichter, und doch ergreifender Sänger und sehr begabter Komponist“, „sehr interessanter musikalischer Charakter, der mit flotter Wirkung vorträgt“ und „einer der besten Vertreter des Gesanges zur Gitarre“ wurde Blumenthal bei diesen Auftritten von der Presse gefeiert.
Zwischen 1901 und 1917 vertonte er zahlreiche Gedichte älterer und vor allem zeitgenössischer Dichter, die – nun wieder überwiegend unter Blumenthals bürgerlichem Namen – bei Verlegern wie Hofmeister und Günther in Leipzig, Bote & Brock in Berlin oder Hainauer in Breslau erschienen. Neben seinem lyrischen Hauptwerk wurden auch einige seiner Instrumentalwerke verlegt, so etwa eine Lauten- und Gitarrenschule, eine Suite für Klavier zu vier Händen, eine Gavotte für Streichquintett sowie die beiden Klavierquintette aus Hochschulzeiten. Aus den letztgenannten Werken wird ersichtlich, dass Blumenthal sich keineswegs mit der Komposition von Unterhaltungsmusik begnügte, sondern sich immer wieder auch in verschiedenen Gattungen der ernsten Musik versuchte. Sein ehrgeizigstes Projekt in dieser Hinsicht war die Oper „Sulamith,“ die am 14. April 1907 im Stadttheater Nürnberg uraufgeführt wurde, sich jedoch lediglich als ein Achtungserfolg erwies und in der Folge bald wieder vom Spielplan verschwand. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Blumenthal mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin, wo er am 1. August 1919 im Alter von nur 45 Jahren starb.


Judith Kemp



 



 

 

 

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